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Leseprobe für das Buch Einmal noch Margeriten pflücken ...
44 LEBENsweisheiten STERBENder
von Marion Jettenberger:

Wichtige Hinweise:
Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang mit Leben, schwerer Erkrankung, Sterben und Tod. Die niedergeschriebenen Lebensweisheiten resultieren daraus, stellen jedoch keine Lebensempfehlung der Autorin und/oder des Verlages dar.
Aus Respekt vor den Toten und auf Wunsch der Überlebenden wurden Namen, Orte und teilweise Diagnosen geändert. Etwaige Ähnlichkeiten oder Namensgleichheit sind daher rein zufällig.
Im Buch hat sich die Autorin durchgängig für das DU entschieden, aus mehreren Gründen:
Um Dich als Leser*in ganz nahe und persönlich abzuholen, gerade die Fragen betreffend, welche die Reflexion Deines Lebens und Deiner Lebenshaltung anregen sollen.
Weiter wird in der Hospiz- und Palliativszene, gerade auch unter „Ehrenamtlern“ und „Hospizlern“, gerne geduzt. Dies hat sicherlich auch mit der Nähe und Verbundenheit sowie einer ganz besonderen Grundhaltung aus der Hospizbewegung heraus zu tun, Menschen bis zuletzt im Leben und Sterben zu begleiten.
Auch meine Zu-Begleitenden wünschen sich und schätzen das ungezwungene DU, weshalb ich mich beispielsweise auch immer direkt als Marion vorstelle. Ich dringe ja häufig auch in sehr intime Bereiche dieser Menschen ein. Ob räumlich gesehen in deren Zuhause, in deren Schlafzimmer, an deren Sterbebett. Aber auch innerlich-seelisch teilen wir oft intime Momente, welche diese Menschen so oft mit keinem anderen Menschen teilen können.

16. Schätze die kleinen Dinge & Momente!
Das Bewusstsein der Vergänglichkeit macht uns klar,
dass wir jeden kostbaren Moment nutzen müssen.

Dalai Lama

Oft sind es gar nicht die großen filmreifen Momente, die uns mit Glück und Freude erfüllen, sondern viel mehr die kleinen Momente und alltäglichen Dinge. In unserem vollen Alltag oder gar im Hamsterrad des Lebens übersehen wir das leider nur allzu häufig. Zwei Sterbende sind da wieder einmal mehr unsere Lehrmeister. Ihre Haltung im Anblick des Todes hat sich einfach verändert, sie richten ihren Blick viel mehr auf Wesentliches, anstatt auf die ganzen großartigen Äußerlichkeiten.

Öffne deine Augen
Andrew sagt: „Geh raus in die Natur, so oft du kannst! Suche nicht nach dem Glück, es ist doch längst da, überall dort draußen in der Natur, übersieh es nicht. In jeder Blume, in jedem Sonnenstrahl, in jedem singenden Vogel findest du ein Wunder, in jedem Moment. Mach die Augen auf!“
Albert Einstein sagte einmal:
Wer sich nicht mehr wundern
und in Ehrfurcht verlieren kann,
ist seelisch bereits tot.

Genauso ist es wohl auch. Im Alltagsgetümmel sehen wir diese kleinen großartigen Wunder oft nicht mehr. Wir sollten viel öfter innehalten und dem Leben lauschen, um dann beispielweise den singenden Vogel zu hören oder den wärmenden Sonnenstrahl auf der Haut zu spüren. Das sind die wahren Glückmomente und eine gute Seelennahrung für uns alle.
Interessant finde ich auch, was sich Menschen am Lebensende noch einmal wünschen, was sie als Glück empfinden. So wunderte es mich nicht, als mich Anna-Maria bat, noch einmal mit ihr in den Hirschgarten zu gehen. Bisher hat sich keiner meiner Begleiteten am Ende des Lebens mehr Geld, Besitz, Schmuck oder ein größeres Auto gewünscht. Oft sind es wirklich diese ganz winzig kleinen Glücksmomente wie der Steckerlfisch im Hirschgarten mit Anna-Maria.

Einmal noch
Anna-Maria wollte unbedingt noch einmal in den Hirschgarten, einen traditionellen Münchner Biergarten. Dort hat sie von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter viele Sonntagnachmittage mit ihrer Familie und Freunden verbracht.
Mit ihr dort hinzukommen, das war gar nicht so einfach. Doch es war ihr so ein sehnlichster Wunsch, sodass wir es trotz erschwerter Immobilität, aber mit vereinten Kräften im Team planten. Da saß sie dann in einem Pflegerollstuhl, durch den Transport geschwächt, aber strahlend. Sie blickte sich um, lutschte an der Haut des Steckerlfisches, denn essen konnte sie kaum noch. Doch sie roch und roch an dem ihr seit ihrer Kindheit bekannten Duft und nippte an der Weißweinschorle. Sie war glücklich und alle, die daran beteiligt waren, dieses Glück zu ermöglichen, ebenfalls. Wieder zurück in ihrem Pflegebett bedankte sie sich und sagte erschöpft: „Jetzt kann ich meine Augen für immer schließen.“ Danach erlangte sie ihr Bewusstsein nicht mehr und verstarb einige Tage nach diesem wunderbaren letzten Ausflug, den ich nie vergessen werde. Vor allem diese Augen von Anna-Maria, dieses Glück, diese Freude an dem Duft und Geschmack des Fisches, bleiben in mir haften.
Ich hoffe, lieber Leser, du spürst dieses Glück zwischen den Zeilen.
Noch eine Begegnung lehrte mich, die Kleinigkeiten mehr zu schätzen, nämlich die Begegnung mit Sieglinde. Sie erzählte mir bei einem Besuch:

Nie mehr
„Als ich die Diagnose bekam, ist meine Welt zusammengebrochen. Das Erste, was mir in den Sinn kam, waren mein Mann und meine Kinder. Das Zweite dann, was ich alles nicht mehr mit ihnen erleben werde. Erstaunlicherweise waren das ganz einfache, kleine, alltägliche Dinge, wie
nie mehr gemeinsam die Sonne sehen,
nie mehr gemeinsam Geburtstag feiern,
nie mehr den Geruch meiner Kinder riechen,
nie mehr neben meinem Mann aufwachen,
nie mehr ...“
Ich danke Sieglinde von Herzen, denn seit unserer Begegnung haben sich mein Blick und meine Wertschätzung noch einmal stark verändert. Ich schätze seither auch den Duft meiner Lieben viel mehr, das Aufwachen neben meinem Nikolai oder auch, wenn sein Kissen, obwohl er längst im Dienst ist, noch nach ihm und seinem Duft riecht. Diese vielen klitzekleinen kostbaren alltäglichen Dinge wahrzunehmen und wertzuschätzen, macht mich unheimlich dankbar.

Wie geht es dir damit?
Bist du dir deiner eigenen, kleinen wertvollen Dinge und Momente bewusst?
Schreibe dir doch auch diese ganz kleinen, wertvollen und kostbaren Momente auf, seien sie noch so alltäglich und scheinbar belanglos. Werde dir dieser dadurch bewusst(er).

Studien zufolge kommt die größte Freude von den kleinen Dingen im Leben. Schätze die einfachen Momente, um glücklicher zu sein!
Als Kinder war uns diese Freude ganz selbstverständlich inne. Weißt du noch, wie sehr du dich als Kind über bestimmte Dinge freuen konntest? Über die wunder-schönen bunten Blümchen, die auf der Wiese wachsen, über eine Kugel Eis oder den Welpen des Nachbarn … Vielen Erwachsenen geht die natürlich Freude verloren, weil irgendwann andere Dinge im Leben wichtiger geworden sind, sei es Studium, Beruf, Geld und allerlei andere „wichtiger gewordene Themen“, sodass die kleinen Dinge im Leben ihre Bedeutung verloren haben.
Versuche mal wieder, auf diese kleinen großartigen Dinge zu achten, darin wieder diese (kindliche, reine) Freude zu entdecken! Genieße diese Momente und erhalte dieses Glücksempfinden wieder zurück.
Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit
in kleinen Dingen,
Unglück oft durch Vernachlässigung
kleiner Dinge.

Wilhelm Busch

Als Kinder konnten wir uns noch grundlos an kleinen Momenten und Dingen erfreuen. Üben wir es doch wieder und holen uns so ein Stück Glück zurück!

Alleine aufs Klo können
Im letzten Jahr bekam Samira die schockierende Diagnose Leukämie. Sie nahm den Kampf gegen den Blutkrebs auf. „Und schon lief Chemo 7 Tage 24 Stunden in mich rein, das war wirklich schlimm. Da lernte ich die ganz kleinen Dinge und Momente erst richtig zu schätzen. Mein Kreislauf und mein Immunsystem waren komplett runtergefahren, ich bin tagelang nicht in der Lage gewesen, selbstständig auf Toilette zu gehen, weil ich nicht laufen konnte. Mir wurde eine fahrbare Toilette neben mein Bett gestellt, mir war kotzübel, ich musste mich ständig in eine Schale übergeben, mir war schwindelig … Als es mir dann mal für einen klitzekleinen Moment nicht schlecht war, freute ich mich unheimlich. Ich freute mich über jeden Augenblick, in dem ich mich nicht übergeben musste. Ich schätze es wieder, alleine zur Toilette, vor allem auf eine richtige Toilette gehen zu können, denn dieser Toilettenstuhl neben dem Bett, frei im Raum, ist nicht wirklich angenehm. Nie dachte ich, ich wäre mal dankbar für solche Kleinigkeiten und Banalitäten wie einen Toilettengang oder einen Moment, in dem mir nicht übel ist. Generell schätze ich seither den Augenblick und die kleinen Dinge im Leben viel mehr.“