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Leseprobe für das Buch Mein Vater war ein heimatloser Aramäer
Die wahre Geschichte einer Flucht
von Michael Rabo:

Kapitel 1

Der erste Oktobertag des Jahres 1990.

Die Klosterglocke des Dorfes läutete und stimmte zum täglichen Morgengebet ein. Es handelte sich um keine geringere Glocke als die des Mutter-Gottes-Klosters in Hah, eines christlich-aramäischen Dorfes im historischen Nordmesopotamien, im tiefen Südosten der heutigen Türkei. Eine geschichtsträchtige Region, die auch unter der aramäischen Bezeichnung 'Tur Abdin', der Berg der Diener Gottes, an Bedeutung gewann und zahlreiche schöne Städte und Dörfer beherbergte. Eines dieser Dörfer war Hah. Von der Herrlichkeit der farbenfrohen Landschaft über die einsamen, sich kilometerweit erstreckenden Ruinenfelder in der Umgebung des Dorfes bis hin zu den herausragenden Zeugnissen einer einzigartigen Kulturgeschichte.
Das malerisch und landwirtschaftlich gekennzeichnete Dorf wurde fast ausschließlich von Aramäern bewohnt, die der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien angehörten. Die aramäischen Christen bildeten nur noch eine Minderheit im Tur Abdin, der einst christlich geprägt war und zunehmend Bedrohungen fundamentalistisch-islamistischer Extremisten unterlag.

Das Glockengeläut ertönte an jenem Morgen außergewöhnlich lange. Die glühende Sonne wurde am östlichen Horizont sichtbar, ging über Hah auf und strahlte vom tiefblauen Himmel über die weiten, fruchtbringenden Felder. Der Tagesanbruch war von einer traurigen Stimmung geprägt, denn es war wieder ein Tag, an dem das Dorf Abschied nahm.

'Edessa, ist alles in Ordnung?', fragte Aram, der mit langsamen Schritten das Wohnzimmer betrat und seinem Gesichtsausdruck zufolge wusste, dass das Gegenteil der Fall war.
Edessa, bildschön wie aus einem Märchen, reagierte nicht. Sie saß lediglich auf dem Lehnstuhl im Wohnzimmer, hielt ein kleines Bild in ihren Händen und blickte es mit ihren tiefen, hellbraunen Augen an. Es war kein unbedeutendes Bild. Nein. Das Bild erzählte eine besondere Geschichte. Es handelte sich um ein Familienfoto, welches an jenem Tag geschossen worden war, an dem sich Edessa und Aram das Ja-Wort gegeben hatten. Sie strich mit ihren Fingern über die glatte Oberfläche des Bildes und wischte sich anschließend die Tränen aus dem Gesicht.
Aram näherte sich ihr schweren Schrittes, kniete vor ihr nieder und versprach flüsternd: 'Alles wird gut. Wir schaffen das.' Vorsichtig und zugleich liebevoll nahm er ihre Hand und fügte ergänzend bei: 'Wir drei schaffen das.'
Edessa war nämlich hochschwanger. Sie befand sich kurz vor dem achten Schwangerschaftsmonat. Diesem Kind wollten sie die bestmögliche Zukunft bieten, in der man keiner Verfolgung und Repressalie ausgesetzt sein sollte, was im Tur Abdin unmöglich war.
In den letzten Jahren wurden mehr und mehr Christen unterdrückt. Angst, Panik und Unsicherheit prägten den Alltag der Christen. In den Augen eines radikalen Muslims galt ein Christ als 'Ungläubiger'. Man war nicht willkommen, zumindest nicht bei den Muslimen, die die Region ethnisch zu säubern vermochten. Allerdings setzten die Christen die friedlichen Muslime, die den Christen nichts Böses tun wollten, nicht mit den Muslimen, die eine radikale Ausprägung ihres Glaubens lebten, gleich.
Die Völkermorde an den Aramäern, Armeniern, Griechen und anderen Minderheiten im Jahre 1915 waren der mit Blut bezahlte Beweis dafür, dass man unerwünscht war. Unerwünscht in einer Region, in der die Aramäer noch vor hundertfünfzig Jahren die Mehrheit der gesamten dort lebenden Bevölkerung dargestellt hatten. Bis zu fünfhunderttausend Aramäer waren dem Genozid von 1915 zum Opfer gefallen. Im Schatten des ersten Weltkriegs hatten sie den Tod im damaligen Osmanischen Reich erlitten, dessen Volk auf brutalste Art und Weise dezimiert worden war. Fast die Hälfte der syrisch-orthodoxen Aramäer wurde bei diesem Genozid ausgelöscht. Auch bekannt als 'Sayfo', der Völkermord an den Aramäern. Ein Begriff, der den Genozid an den Aramäern vor dem geistigen Auge des aramäischen Volkes zum Ausdruck brachte und Revue passieren ließ.
Der erste Völkermord in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Tur Abdin war die Urheimat der Aramäer. Doch von dem Glanz vergangener Jahre war nur noch sehr wenig übrig geblieben. Sie waren als Minderheit nicht einmal anerkannt.
Ermordungen, Entführungen, religiöse sowie politische Verfolgungen und Schikanen aller Art versetzten die Christen in Angst und Schrecken. Doch Diskriminierungen aufgrund der Religion und Ethnie waren nur die Spitze des Eisberges. In bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Republik und der kurdischen Arbeiterpartei PKK gerieten die Christen seit den frühen Achtzigern gnadenlos zwischen die Fronten.
Rahmenbedingungen wie diese waren unzumutbar, insbesondere für ein Neugeborenes, das sehr bald das Licht der Welt erblicken würde. Die einzige Möglichkeit, ein Leben in Frieden und Freiheit zu leben, war die Flucht in ein Land, in dem man keiner Angst ausgesetzt war. Dieses Land sollte für Edessa und Aram die Bundesrepublik Deutschland sein, wo bereits seit längerer Zeit, im Zuge der enormen Auswanderungswelle, sehr viele Flüchtlinge, unter anderem sehr viele Aramäer aus dem Tur Abdin, Schutz vor Gefahr und Verfolgung gefunden hatten, ihnen der Asylstatus anerkannt worden war und sie sich dort, in der zweiten Heimat 'Almanya', eine neue Existenz aufbauen konnten. Sowohl die älteren Geschwister von Edessa als auch die von Aram hatten bereits vor einigen Jahren die Initiative ergriffen, nach Süddeutschland zu flüchten, wo sie später in Frieden mit ihren Kindern lebten und in der deutschen Gesellschaft Fuß gefasst hatten.
Diese wertvolle Chance wollten auch Edessa und Aram nutzen. So wagten sie diesen Schritt, der jedoch zweifellos kein ungefährlicher sein sollte. Obendrein bestand die Möglichkeit, dass die hochschwangere Edessa das Kind während der Flucht durch eine Frühgeburt auf die Welt bringen könnte. Die Folgen dessen wollte man sich zu diesem Zeitpunkt nicht ausmalen.
Jedoch ließ die bedrohliche Situation es nicht anders zu.

'Schlomo (aramäisch; Hallo), der Kleinbus ist da, bitte beeilt euch!', rief ein Freund vor dem Haus, der von dem Busfahrer zu Aram geschickt worden und aufgrund des schallenden, durchdringenden Glockenspiels des Klosters gezwungen war, sich in doppelter Lautstärke zu artikulieren.