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Leseprobe für das Buch Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom von Sieglinde G.:

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort
2. Kurzdarstellung meiner Person
3. Die Diagnostik
4. Schule – Kontakt mit Mitschülern
5. Klassenfahrten und Schüleraustausch
6. Schulunterricht
7. Erlernen von Sprachen
8. Sportverein während der Schulzeit
9. Ballsportarten im Garten
10. Kuscheltiere
11. Playmobil
12. Forsthaus Falkenau
13. Tic-Störung
14. Magersucht und seelische Störungen
15. Schweigekloster – Studium
16. Studium – Rückblick auf die Fehldiagnose der sozialen Phobie
17. Psychosomatische Klinik
18. Urlaub im Kloster
19. Die Suche nach einer Arbeitsstelle - Eine Reise durch Deutschland
20. Asperger – ein Ausschlusskriterium für eine Adoption
21. Ohrstöpsel
22. Wie geht es Dir? Wie war Deine Woche?
23. Offene / Geschlossene Fragen
24. Ja-Nein-Fragen
25. Kommunikation auf Sachebene
26. Spezialinteressen
27. Die drei Siebe des Sokrates - Kommunikation ist kein Fastfood
28. Lesen
29. Brettspiele
30. Vorteile des Asperger-Syndroms
31. Brieffreundschaft
32. Empathie und Gefühle
33. Urlaub
34. Außenwahrnehmung bei Unkenntnis der Diagnose
35. Fehlende Kenntnis der Asperger-Diagnose
36. Musik
37. Getaktetes Leben
38. Auszeiten zur mentalen Regeneration und Schlafbedürfnis
39. Alkohol
40. Soßen
41. Schnitzel Wiener Art
42. Beruf
43. Vertrauen
44. Pünktlichkeit
45. Uhr
46. Innere Ordnung / äußere Unordnung
47. Ästhetik
48. Heiß und kalt
49. Schmuck
50. Kleidung
51. Musikhören
52. Tassen
53. Corona
54. Halt
55. Was denken die anderen
56. Der Weg nach der Diagnose
57. Was will ich den Lesern mit auf den Weg geben
58. Dankesworte


1. Vorwort

Warum schreibe ich dieses Buch?
Ich habe eine Autismus-Spektrum-Störung, konkret das Asperger-Syndrom.
Ein gängiger Satz, den ich mittlerweile entäußere, seitdem bei mir Ende des Jahres 2020 im Alter von 38 Jahren die Diagnose des Asperger-Syndroms von fachärztlicher Seite gestellt wurde.
Der Interlokutor reagiert bei Nennung dieser Störung in der Regel nicht im Sinne einer nunmehr erhaltenen Erhellung über Besonderheiten seines Gegenübers. Das Asperger-Syndrom wird in der Gesellschaft manchmal der Kategorie seelische Störung bzw. psychische Störung zugeordnet. Dies ist jedoch ein Erratum, welches es gilt, in der Gesellschaft zu eradizieren, wozu auch meine Sätze beitragen sollen.
Anhand von Eindrücken und Wahrnehmungen aus meinem Leben als Asperger-Autist (oft Aspie genannt) sollen diese als Transmitter dienen, um meine der Diagnose geschuldete Gedankenwelt verständlich in die Wahrnehmung der nichtautistischen Bevölkerung einzupflanzen.
Auch sollen die dargelegten Auszüge aus meinem Leben den Lesern vor Augen führen, wie beispielhaft das Leben eines Asperger-Autisten aussehen kann und wie bei Aufeinandertreffen mit einem Asperger-Autisten diesem eine Kommunikation einfacher gemacht werden kann, etwa durch präzise Fragestellungen.
Das Asperger-Syndrom ist - anders als etwa eine körperliche Behinderung – äußerlich als solches nicht erkennbar. Vielmehr handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, die sich oft durch folgende Besonderheiten zeigt[1]:
- Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
- Unterschiede bei der Wahrnehmung und Reizverarbeitung, insbesondere Reizfilterung
- außergewöhnliche Interessen und Begabungen
- ritualisierte Handlungen bzw. Abläufe

Da sich diese besonderen Wesenszüge im Inneren des Menschen abspielen, ist eine Diagnostik häufig schwierig.
Auch gelingt es gerade intelligenten Menschen, Schwierigkeiten, die sich diagnosespezifisch im Leben ergeben, durch Lerntechniken und Anpassungsmethoden bis zu einem gewissen Maß zu kompensieren.
Dieses Buch soll daher auch eine Entscheidungshilfe für die Menschen sein, die das Asperger-Syndrom für sich in Betracht ziehen und eine Diagnostik scheuen.
Ich kann jedoch jeden ermuntern, der bei einem Hineinhorchen in sich selbst die Zuordnung zur Diagnose des Asperger-Syndroms ernsthaft in Betracht zieht, den gangbaren Weg einer Diagnostik nicht zu scheuen, da aus meiner Erfahrung erst die Kenntnis dieser Diagnose die Puzzleteile im Lager meiner Erinnerungen zu einem Gesamtbild zusammengefügt hat.
Ich soll dieses Buch seinen Dienst dahingehend leisten, Betroffene zu einem offenen Umgang mit der Diagnose zu ermutigen.
Ein offener Umgang mit der Diagnose führte bei mir ausschließlich zu positiven Erfahrungen in meinem Umfeld. Ebenso trägt diese Offenheit auch dazu bei, Autismus-Spektrum-Störungen in der Gesellschaft nicht zu tabuisieren und den Mitmenschen überhaupt zu zeigen, dass unter ihnen auch Personen sind, denen andere Wesensmerkmale inhärent sind.
Gerade diese Diversität ist es, die unsere Gesellschaft, die aus Individuen besteht, bunt macht und die nicht in Vergessenheit geraten darf bzw. überhaupt erst hervorgehoben werden muss.
Das Buch soll ferner für andere Asperger-Autisten als Hilfestellung dahingehend dienen, dass trotz gewisser Schwierigkeiten es sich stets lohnt nicht aufzugeben und zudem aufzeigen, dass auch andere Asperger-Autisten einen kurvenreichen Lebensweg vorzuweisen haben.
Jeder ist der Regisseur seines Lebens und lenkt mithin seinen Lebenswagen selbst.
Zu guter Letzt soll daher dieses Buch auch für mich eine helfende Funktion haben, indem ich durch die schriftliche Niederlegung meiner Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen die einzelnen Stationen meines Lebensweges nochmal durchlaufe und dadurch besser verarbeiten kann.
Des Weiteren schreibe ich sehr gerne und die Beschäftigung mit der deutschen Sprache sowie das Pflegen eines etwas für andere gewöhnungsbedürftigen Schreibstils ist meinen Freizeitbeschäftigungen zuzuordnen.
Der Asperger ist mein Begleiter, den ich nicht wie Schmutz von meinem Körper in der Dusche entfernen kann. Er steht mir jeden Tag zur Seite, so dass ich meinen Weggefährten auf den folgenden Seiten näher vorstellen möchte.
Das Buch beginnt nach einer kurzen Vorstellung meiner Person sodann mit der Darlegung meiner Diagnostik.
Es folgen Schilderungen aus den drei großen Lebensabschnitten Schulzeit, Studium und Arbeitsleben.
Im Bereich des Arbeitslebens sind sodann Besonderheiten in meinem Leben dargelegt.
Im Weiteren folgen Kapitel von einzelnen Aspekten aus meinem Leben, die einen Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom erkennen lassen.
Von einer vollständigen chronologischen Darstellung der einzelnen Stationen meines Lebensweges habe ich abgesehen, da bestimmte Punkte sich nur schwer zeitlich an einem Lebensstandort einordnen lassen, sondern eher im Gesamtbild zu sehen sind und daher am Ende des Buches einen Platz gefunden haben.

2. Kurzdarstellung meiner Person
Ich wurde im Jahr 1982 als zweites Kind meiner Eltern geboren. Meine Schwester ist 2,5 Jahre älter. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und legte dort im Jahr 2002 mein Abitur ab.
Während der Schulzeit durchlitt ich eine Magersucht und beschäftigte mich in meiner Freizeit viel mit Lesen, Musizieren und Badmintonspielen.
Nach dem Abitur folgte ein Jurastudium mit einem Auszug aus meinem Elternhaus. Die Endphase des Studiums war begleitet von einer psychotherapeutischen Behandlung.
Zum Referendariat kehrte ich 2008 wieder in mein Elternhaus in den Schoß der Familie zurück und bestand im Jahr 2010 erfolgreich das zweite juristische Staatsexamen.
In dieser Zeit des Referendariats lernte ich meinen heutigen Ehemann kennen, der ebenfalls das Referendariat mit mir absolvierte.
Nachdem wir beide das zweite Staatsexamen abgelegt hatten, zogen wir 2011 in ein anderes Bundesland, da ich dort beruflich als Juristin starten konnte. Meine Eltern und meine Schwester sind mittlerweile zu uns gezogen, so dass wir alle zusammen in einem Zweifamilienhaus wohnen.
In meiner Freizeit lese und schreibe ich gerne. Außerdem zählen Sport (Joggen, Nordic-Walking, Wandern, Radfahren, Langlaufen) und Musik (Schlagzeug, Kirchenorgel) sowie Brettspiele zu meinen Vorlieben in der Freizeit.
Mein Interesse gilt insbesondere auch der deutschen Sprache und der Vielfalt der Wörter, so dass ich in einem Notizbuch für mich persönlich schöne Wörter sammele und diese auch in meine Sammlung im PC übertrage.
Ende 2020 wurde bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Somit gehöre ich zur Kategorie der Personen, die erst im Erwachsenenalter Kenntnis von ihrer Diagnose erlangt habe.

3. Die Diagnostik
Vielfach habe ich gelesen, dass das Asperger-Syndrom bei Betroffenen oft erst spät oder gar nicht diagnostiziert wird. Somit falle ich nicht aus dem Raster.
Bei mir wurde die Diagnose im Alter von 38 Jahren gestellt, als ich nach einer funktionellen Stimmstörung im Nachgang zu einer Kehlkopfentzündung in logopädischer Behandlung war und im Anschluss daran im Hinblick auf kommunikative Schwierigkeiten zahlreiche Stunden in rhetorischer Schulung nahm.
In vorangegangener psycho- und verhaltenstherapeutischer Behandlung beginnend mit langjährigen Unterbrechungen im Studium wurde irrtümlicherweise immer die Diagnose einer sozialen Phobie gestellt.
Erst im Rahmen der rhetorischen Stunden in der logopädischen Behandlung fingen meine schon länger bestehenden Zweifel hinsichtlich der Diagnose der sozialen Phobie an, konkret in mir zu gären, so dass ich mich selbst näher mit einer diagnostischen Einordnung zu befassen begann. Auffallend für mich im Rahmen der logopädischen Behandlung war, dass selbst unter beschützenden Bedingungen zu Hause bestimmte rhetorische Übungen nicht gut funktionierten bzw. in der Behandlung Kommunikation auf der Sachebene nach konkreten Fragen passabel verlief, wohingegen das spontane freie Reden bzw. Smalltalk einem Hürdenlauf ohne Ankommen im Ziel gleichkam.
Flankiert wurden diese Zweifel bereits von der Begebenheit, dass nach mehreren Jahren Verhaltenstherapie diese ohne erfolgreichen Abschluss beendet wurde, da sich fast keine Fortschritte im Behandlungsverlauf einstellten und mithin ein Punkt erreicht war, an dem eine andere therapeutische Richtung einzuschlagen war. Zudem merkte ich auch selbst, dass eine konkrete rhetorische Schulung mir mehr Wege für ein selbständigeres und mehr zur Zufriedenheit beitragendes Leben aufzeigen kann.
Ich las mich mithin einige Wochen in den Bereich der Störungen aus dem Autismus-Spektrum ein, da eine solche Störung für mich als diagnostische Einordnung in der Rückschau meines Lebensweges und der vorhandenen Schwierigkeiten plausibel erschien.
Auch mit der Thematik „Mutismus“ machte ich nähere Bekanntschaft durch entsprechende Lektüre, insbesondere von Fallbeispielen.
Der Hintergrund für diese Bekanntschaft ist, dass bei mir in der psychotherapeutischen Behandlung während meines Studiums die Verdachtsdiagnose „selektiver Mutismus“ seitens meiner Therapeutin gestellt wurde.
Mein Wissen über Autismus-Spektrum-Störungen befand sich zu Beginn der Beschäftigung mit dieser Diagnose im Jahr 2019 auf dem Niveau der aufgesaugten Informationen aus Spielfilmen bzw. dem allgemeinen Zeitungswissen. Je mehr ich mich einlas, umso sicherer wurde ich in meiner diagnostischen Selbsteinordnung. Mir persönlich erschien es wichtig, eine konkrete diagnostische Einordnung meiner Schwierigkeiten zu wissen, zumal ich erheblich mit der Diagnose der sozialen Phobie haderte und diese Fehldiagnose mir keinen inneren Frieden bescherte.
Ich entschloss mich daher Ende des Jahres 2019, meine ehemalige Fachärztin für Psychiatrie, bei der ich bis Anfang 2019 in therapeutischer Behandlung war, nochmals ausschließlich zwecks Abklärung meiner Verdachtsdiagnose des Asperger-Syndroms zu konsultieren, um den Zustand des inneren Chaos der nicht geklärten Einstufung meiner Verhaltensauffälligkeiten beenden zu können und mehr innere Ruhe zu finden. Ich bekam zur Behebung meiner Zweifel glücklicherweise noch in der Woche der Anfrage eine Audienz zur Diagnostik angeboten.
Ich gebe der Ärztin keinesfalls die Schuld, dass meine Diagnose vorher nicht entdeckt wurde, da eine frühere Diagnostik im Rahmen der Therapie durch fehlenden Informationsfluss von meiner Seite, was den Schwierigkeiten in der mündlichen Kommunikation geschuldet war, nur schwer möglich bzw. nahezu unmöglich gewesen wäre.
Im Rahmen einer schriftlichen Darstellung, insbesondere von Schwierigkeiten in der Kindheit und Jugendzeit, gab ich Auskünfte über mich preis, zu denen ich mündlich in einer Vis-à-vis-Situation nicht in der Lage gewesen wäre.
An dieser Stelle ist bereits in Erwähnung zu bringen, dass eine schriftliche Kommunikation oft der Rettungsanker für mich ist, um meine Belange zu artikulieren.
Von daher gesehen geht ein Appell bzw. eine Bitte an Ärzte, dass bei Patienten, die therapeutische Hilfe wegen Kommunikationsschwierigkeiten aufsuchen, stets die Möglichkeit bzw. die Offerte einer schriftlichen Kommunikation in Betracht gezogen werden sollte.
In der Reflexion meiner Vergangenheit kann ich nur jeden ermutigen, sich frühzeitig bei Anzeichen für eine Asperger-Diagnose einer solchen Diagnostik zu unterziehen. Fehldiagnosen, wie etwa bei mir die soziale Phobie, wohnt das Potential inne, dass ein Patient innerlich Amok läuft und sich immer mehr zurückzieht, insbesondere, wenn in der Therapie keine eklatanten Fortschritte zu erkennen sind.
Eine beizeiten gestellte Asperger-Diagnose lässt auch etwaige Komorbiditäten in einem anderen Licht erscheinen und leistet einen Beitrag zum eigenen Verständnis von Begleitdiagnosen.

Schule – Kontakt mit Mitschülern
Retrospektiv war die Schule für mich kein Wohlfühlort. Mit zunehmendem Alter wurde die Kommunikation mit den Mitschülern für mich schwierig mit der Folge eines Eintritts meiner Person in eine Außenseiterrolle.
Sobald das Gespräch auf nicht schulisch bezogene Themen kam, war die Grenze meiner kommunikativen Fähigkeiten erreicht.
In der Grundschulzeit stand altersbedingt mehr das Spielerische im Miteinander im Fokus, so dass die Hauptphase der Erschwernisse auf dem Terrain Kommunikation mit Mitschülern mit Beginn des Übertritts in das Gymnasium ihren Startpunkt fand.
So fing ich auch an, ab der 7. Klasse keine schulischen Weggefährten mehr zum Geburtstag zu mir nach Hause einzuladen, da nun bei den Mitschülerinnen – anders als in den Vorjahren – nicht mehr Aktionen wie Schnitzeljagd, Märchen als Theaterstück nachspielen und mithin konkrete Spiele das Motto des Geburtstags darstellten, sondern einfach nur Zusammensitzen und ein mündlicher Austausch über Jungs, Sexualität und mithin mädchenhafte Themen im Fokus des allgemeinen Interesses standen.

Tic-Störung
Meine Asperger-Diagnose wurde auf meinem Lebensweg begleitet durch andere Störungsbilder, die rückblickend zumindest naheliegend in Verknüpfung mit dem Asperger-Syndrom zu sehen sind.
Bereits in der frühen Kindheit war bei mir eine Tic-Störung zu erkennen, die sich darin zeigte, dass ich gewisse Fratzen mit meinem Gesicht zog, beispielsweise im Sinne von Zuckungen mit Augenzusammenpetzen und Hochziehen einer Gesichtshälfte bei geschlossenem Auge.
Nach außen hin waren diese merkwürdigen Gesichtszuckungen für Betrachter nicht angenehm anzuschauen, so dass Mitschüler in herabsetzender Weise diese Gesichtszüge nachahmten, um mich, die ich mir die Tic-Störung nicht selbst ausgesucht habe, coram publico bloßzustellen und mich zu ärgern.
Mir war selbst bewusst, dass ich den Zuckungen unterliege und dass dies einen optischen Störfaktor für andere Personen darstellen kann. Allerdings konnte ich diese Zuckungen auf Knopfdruck nicht abschalten bzw. teilweise ist mir auch je nach Situation gar nicht gewahr gewesen, dass ich in diesem Moment mein Gesicht in normabweichendem Verhalten bewege.
Mit zunehmendem Alter sind diese Zuckungen deutlich besser geworden. Auch gelang es mir zu analysieren, in welchen Situationen die Gesichtsbewegungen einen starken und wann einen schwachen Ausprägungsgrad erreichen. Bei hochkonzentriertem Arbeiten ohne äußere Ablenkung und ohne intensive störende Reizeinströmung durch Geräusche erweckt das Gesicht vom Bewegungsgrad einen normalen Eindruck.
Auch wenn ich das Wort „normal“ ungern in Verwendung bringe, da es viel zu unbestimmt ist, dient diese Wortwahl vorliegend einer pragmatischen Lösung, da im allgemeinen Sprachgebrauch Störungen häufig als nicht normal angesehen werden.
Allerdings ergeht gleichzeitig der Appell an die Leser, im täglichen Sprachgebrauch das Wort „normal“ nicht ungeprüft über die Lippen gehen zu lassen bzw. nicht ohne Nachdenken diese Wortwahl in Schriftform zu gießen. Vornehmlich sollte der Sprecher bzw. Schreiber sich des Wortes „anders“ bedienen und mithin lediglich aufzeigen, dass der Träger bestimmter Verhaltensweisen sich in der Minorität befindet.

Schweigekloster – Studium
Rückblickend betrachte ich, auch wenn diese Zeit von den meisten Freiheiten geprägt war und nicht wie in der Schule vorgegebene starre Strukturen den Tagesablauf vorgaben, den Lebensabschnitt Studium als die schwierigste Phase meines Lebens.
Hintergrund dieser Einordnung ist, dass in dieser Zeit meine größten Tiefpunkte und Krisen als Wegmarken vorhanden waren.
Nach der Schule hatte ich zwar den Drang mich vom Elternhaus abzunabeln, wohl auch um mir gegenüber die Beweisführung anzutreten, dass ich alleine das Leben meistern kann und mit meinem doch noch kontrolliertem und manchmal sogar unkontrolliertem Essverhalten unbeobachtet zu sein, auch wenn mein Körper zu Beginn des Studiums gegen kein Unter- oder Übergewicht anzukämpfen hatte.
Dieser Freiheitsdrang mündete jedoch darin, dass ich in den letzten Zügen des Studiums wieder in den Schoß des Elternhauses zurückkehrte, nicht etwa um mich im Hotel Mama verwöhnen zu lassen, sondern um dort aufgefangen zu werden und wieder in das Leben hineinzufinden.
In meiner Gedankenwelt verbuchte ich damals diese Heimkehr in die beschützende Umgebung der familiären Anbindung als Rückschritt und Eingestehen einer Unfähigkeit, auf eigenen Füßen stehen zu können.
vHeute stehe ich zu dieser Entscheidung und sehe es als Ausdruck innerer Stärke in dem Sinne, dass ich mich im Stande sehe, bei wirklicher Notwendigkeit die Notruftaste zu betätigen.
Bildlich gesprochen kann man sich mein Leben während des Studiums mit einem Aufenthalt in einem Schweigekloster vorstellen. Ich kam mir manchmal vor, als würde ich das Sprechen verlernen bzw. meine Stimmmuskeln in völliger Erschlaffung ein Dasein fristen.
Die einzige Ansprache hatte ich in Telefonaten mit meinen Eltern oder meiner Schwester bzw. gelegentlichen Besuchen durch meine Eltern und Schwester.
Durch die Entfernung zu meinem frei gewählten Studienort von anfangs ca. 300 km zum Elternhaus war jedoch ein solcher Besuch etwa nur einmal pro Semester die Regel. Die Anfahrt verkürzte sich für meine Eltern erst durch einen Wechsel des Studienortes zur Mitte des Studiums auf die Hälfte der Fahrzeit.
Zu den Kommilitonen fand ich keinen Zugang und schaffte es nicht, initiativ mir fremde Personen in der Vorlesung anzusprechen und so einen Kontakt zu knüpfen. Partys waren nicht mein Metier, so dass ich anfangs Hoffnung schöpfte, beim Unisport ein kleines soziales Umfeld aufzubauen.