Manuela Kinzel Verlag |
Informationen zu allen aktuellen Büchern |
Letzte Pressemeldung: NWZ 29.8.24 |
Letzte Pressemeldung: NWZ 3.8.24 |
Letzte Meinung zum Buch: Dämmerzustand |
Suche: Neuerscheinungen Alle Bücher anzeigen als E-Book erhältlich Belletristik Bildband Biographie Christliche Literatur Erfahrungsberichte Geschichte Gesundheit Kinder / Jugendgeschichten Lyrik Musik Mundarten Region Dessau Region Göppingen / Hohenstaufen außergewöhnliche Reiseberichte Sachbücher Theater Tier / Natur Weihnachten Sonderangebote Vergriffene Bücher | Zurück zum Buch Leseprobe für das Buch Macht Mathe glücklich? Von den Möglichkeiten eines kreativen Faches Ein Erfahrungsbericht von Dr. Eckhard Reinartz: Was würdest du tun ...? Eines Morgens wachte Alexandra Diebold auf und stellte mit Erstaunen fest, dass ein Unwetter Marmelade vom Himmel regnen ließ. Ihr erster Gedanke war 'Mist! Warum nicht Ananas?', denn die mochte sie lieber. Dann aber besann sie sich und begann zu träumen. Zu träumen darüber, was sie alles mit der vielen Marmelade anfangen könnte, zum Beispiel die ganze Welt mit Marmelade einschmieren, um vielen Menschen eine süße Freude zu machen, Langfinger daran hindern, sich allzu schnell aus dem klebrigen Staub zu machen oder ganz einfach nur über den Verkauf der Marmelade reich werden, um dann mit allen Menschen in ihrer Stadt diesen Reichtum an einer großen Kuchentafel zu teilen ... las Eleni vor. Es war wohl im Jahr 1981. Seit knapp zwei Jahren unterrichtete ich Mathematik an einem koedukativen Gymnasium mit einem hohen Mädchenanteil. Meine zu dieser Zeit noch dem üblichen Klischee widersprechende Meinung, dass Mädchen für die Mathematik mindestens so begabt wie Jungen sind, deckte sich mit meiner Erfahrung aus fast zehn Jahren mathematischer Forschungstätigkeit, in der ich mit äußerst kompetenten Frauen im Bereich von angewandter mathematischer Grundlagenforschung und praktischen Auftragsprojekten zusammengearbeitet hatte. Mathematik macht in den Anfangsklassen eines Gymnasiums den meisten Schülern[1], Mädchen wie Jungen, viel Spaß. Aber Eleni, eine elfjährige, intelligente und von mir durchaus geschätzte Schülerin, die die sechste Klasse des Gymnasiums besuchte, hatte häufig keine Lust, sich an meinem Mathematikunterricht in irgendeiner Form zu beteiligen und setzte ihre überschüssigen Energien in kontraproduktive, den Unterricht erheblich störende Aktivitäten um. Auch Gespräche und zusätzliche Aufgabenstellungen, die geeignet waren, Eleni ihr Fehlverhalten deutlich erkennen zu lassen, waren erfolglos. 'So, jetzt reicht es mir mit ihrem aufmüpfigen Verhalten', dachte ich eines Tages und beauftragte sie, etwas über das mir spontan eingefallene (Nonsens-)Thema 'Was würdest du tun, wenn es morgen Marmelade regnete?' zu schreiben und am nächsten Tag vor der Klasse vorzulesen. Natürlich eine eher hilflose Reaktion auf ihr Verhalten. Am nächsten Tag las Eleni 'ihre Geschichte' vor, die noch weiter ging; der Fortgang ist aber in meiner Erinnerung verblasst. Eleni erntete mit ihrer fantastischen Erzählung donnernden Applaus und bot sich zu meinem Erstaunen gleich an, noch eine Geschichte zu schreiben. Es machte ihr richtig Spaß. Diese aus der Not geborene Nonsens-Idee war der Beginn einer kleinen, völlig überraschenden 'Erfolgsgeschichte'. Kleine Schülerverfehlungen nahmen nun beträchtlich zu; die Schüler rissen sich geradezu um verrückte Themen. Jeder wollte auch einmal seiner Fantasie und Kreativität freien Lauf lassen, schreiben und selbst vortragen. Aufgrund des großen Schülerandrangs mussten von mir nun ständig neue Themen erfunden werden. Später, nachdem der Zusammenhang von Verfehlung und Bearbeitungsauftrag längst aus meinem Blickfeld geraten war, durften die Schüler ohne konkreten Grund selbst eigene Vorschläge machen. Für ihre 'Lesungen' waren gelegentlich zum Ende einer Unterrichtsstunde einige Minuten reserviert. So kamen Aufsätze unter anderem über 'eckige Fußbälle', 'Menschen, die wegen der Antigravitation auf der Zimmerdecke laufen', 'Menschen, die in gekrümmten Räumen leben', 'City-Biker mit einem roten Rucksack auf dem Rücken', 'Reisebeschreibungen über kosmologische Zeitreisen' (sehr beliebt) oder 'die Gesellschaft, die ohne Mathematik funktionieren kann' zustande, immer in Form der 'Was würdest du tun, wie würdest du ... wenn ...?'-Themen. Unglaublich, wie fantasievoll und originell die Themen und Textbeiträge der Schüler oft waren. Nicht wenige Geschichten hätten es verdient gehabt, einer interessierten Leserschaft zugänglich gemacht zu werden. Rückblickend bin ich nach vielen Jahren Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Gymnasien immer noch beeindruckt von der Freude, Fantasie, Kreativität und Energie, mit der damals einzelne Schüler die beschriebenen Aufgabenstellungen angingen, für die sie im schulischen Benotungsritual nichts bekamen. In dieser Zeit verfestigte sich auch bei mir immer mehr die Erkenntnis darüber, dass es möglich sein müsste, das Kreativitätspotential der meisten meiner Schüler auch im Fach Mathematik zur Entfaltung zu bringen. Warum erinnerte ich mich später so oft an das gerade geschilderte Erlebnis aus den Anfängen meiner Unterrichtstätigkeit? Mir fiel irgendwann auf, dass ich bei ehrlicher Reflexion über meinen Unterricht in bestimmten Lerngruppen, vornehmlich in der Mittelstufe, bei einem Teil der Schüler nicht mehr die Freude, Begeisterung, Fantasie und Kreativität so auslösen konnte, wie ich es mir als Ziel gesetzt hatte. Und die ein so kreatives Fach wie die Mathematik doch hätte entfachen müssen, auch wenn man die entwicklungsbedingt veränderte Interessenlage der Schüler in der Mittelstufe berücksichtigt. Lag es nur an mir bzw. meinem Unterricht oder möglicherweise an meiner durch eine längere Forschungstätigkeit geprägten, spezifischen Sicht der Mathematik? Berücksichtigte meine Reflexion über den eigenen Unterricht auch genügend die Sicht aus der Perspektive der Schüler? Oder lag es schlechthin am Unterrichtsfach Mathematik selbst, welches bekanntlich in der überwiegenden Meinung der Schüler nicht zu den leichtesten und bequemsten Schulfächern zählt? Kippte irgendwann ihre anfänglich positive Beziehung zur Mathematik hier und da vielleicht auch deshalb um, weil ich im Verlauf der Jahre als Folge eines natürlichen Abnutzungsprozesses möglicherweise den Schülern das Fach nicht mehr mit der gleichen Begeisterung wie früher vermitteln konnte? Vor nichts haben junge, engagierte Lehrer mehr Angst als vor dieser potentiellen Abnutzung ihrer Motivationskraft und Begeisterungsfähigkeit. Lag es möglicherweise aber auch an den amtlichen Lehrplänen, an der Schulpolitik, an den Schulstrukturen, an den Schulbehörden? Vielleicht musste mehr Fantasie in den gesamten Schulbetrieb? |